Wie ein Huhn mit einer Schlinge um den Hals

Kassa Tefera stellt in Nairobi das äthiopische Brot Injera her. Foto: Gioia Shah

Viele Äthiopierinnen und Äthiopier fliehen vor dem Krieg in ihrer Heimat nach Nairobi im Nachbarland Kenia. Doch auch dort finden sie kein Gefühl der Sicherheit.

Mit einem geübten Schwung des Handgelenks schüttet Kassa Tefera den flüssigen Teig auf die heiße runde Herdplatte. Es zischt. Locker lenkt sie eine alte Teekanne, die ihr als Gefäß dient, in einer Spirale über die Platte, immer und immer weiter, bis der Teig eine große, dünne Schicht geformt hat. Injera. Die einst silberne Kanne ist mit Teffmehl komplett verkrustet.

In ihrem kleinen Zuhause in einem Slum der kenianischen Hauptstadt Nairobi braten die 30-Jährige und ihr Mann Melaku Gobena jeden Morgen rund 80 Fladenbrote. Das Injera, eine Spezialität aus ihrer Heimat Äthiopien, schicken sie dann an ihre Landsleute in der ganzen Stadt, kleine Päckchen an Privatkunden, große Stapel an Restaurants. Das Ehepaar hat sich für das Geschäft zwar aus Mangel an Alternativen entschieden. Doch Injera ist für Äthiopier nicht nur ein Nahrungsmittel – es ist die Quintessenz ihrer Küche und damit auch ihrer Kultur. Jeder Äthiopier, der nach Kenia kommt, esse Injera, sagt Melaku. "Es bietet auch in der Ferne ein Zuhause."

Melaku Gobena ist 53 Jahre alt und vor drei Jahrzehnten aus Äthiopien nach Kenia geflohen. 1991 verließ er sein Heimatland wegen des Bürgerkrieges, lebte erst in Lagern für Geflüchtete und später in Nairobi. Angekommen ist er aber nie so richtig. "Wie kann ich dies als Heimat bezeichnen?", sagt er mithilfe eines Übersetzers, denn er spricht zwar fließend Amharisch und Suaheli, aber nur gebrochenes Englisch. Melaku erzählt von willkürlichen Festnahmen der kenianischen Polizei, von einer zurückgezogenen Existenz und dem Gefühl, in der Schwebe zu leben.

Und er erzählt von Angst. Der Angst, in Nairobi nicht sicher zu sein.

Diese Angst spürt auch die neue Generation von Geflüchteten aus Äthiopien, die nun in Kenia lebt. Seit dem 3. November 2020 kämpft im Norden Äthiopiens die abtrünnige Region Tigray unter Führung der Volksbefreiungsfront Tigray (TPLF) gegen die Zentralregierung von Premierminister Abiy Ahmed. Beide wollen die volle Kontrolle über die Region. Die TPLF sieht in dem Krieg den Versuch Abiys, die Macht in seiner Hand zu zentralisieren – er hat die Region von der Außenwelt abgeschnitten, Internet und Strom sind weitgehend abgeschaltet, humanitäre Hilfe wird gedrosselt. Abiy hingegen sieht seine Autorität untergraben und die Einheit des föderalen Staates Äthiopiens bedroht durch die Gruppe, die ihre fast 20-jährige Herrschaft verlor, als er Premier wurde.

Misstrauen und Angst

Zwischen rund 385.000 und 600.000 Zivilisten sind Experten der Universität Gent zufolge bereits gestorben, durch Kämpfe, aber auch durch Hunger und mangelnder Medikamente. Dies sei aber nur die Mindestzahl, da die Zahl der getöteten Kämpfer nicht mitgerechnet werde, heißt es. Der Konflikt hat sich zu einem brutalen Krieg entlang ethnischer Linien entwickelt. Nicht nur Äthiopier, die direkt von den Kämpfen betroffen sind, mussten fliehen. In Nairobi leben auch Journalisten, Geschäftsleute oder einfache Arbeiterinnen, die von Verfolgung und Schikane in der Hauptstadt Addis Abeba berichten, weil sie der Bevölkerungsgruppe der Tigray angehören.

Etwa Michael Tadesse, der Übersetzer von Injera-Bäcker Melaku. "Diese Stadt ist nicht wirklich sicher", sagt der 36-Jährige. Nach dem Besuch in der Backstube sucht er sich für das Gespräch über seine eigene Situation ein libanesisches Café mit einem großen Garten und vielen leeren Tischen aus. Auf keinen Fall ein äthiopisches oder eritreisches, damit er bloß nicht von Landsleuten gehört werden kann. Seinen richtigen Namen möchte er nicht verwenden, denn er ist Tigray und Journalist. Aus Addis Abeba hat er für internationale Medien über den Konflikt berichtet, über die Kämpfe und die Gräueltaten, die vor allem von äthiopischen Truppen, aber auch von der TPLF und der damit verbundenen Regionalarmee Tigray Defense Forces (TDF) verübt wurden – Tötungen, Verstümmelungen, Vergewaltigungen.

Addis Abeba blieb zwar von den Kämpfen verschont, doch auch dort wurden die Tigray zur Zielscheibe der Regierung. Mitglieder der Bevölkerungsgruppe wurden Menschenrechtlern zufolge willkürlich festgenommen, viele von ihnen sind seitdem verschwunden. Davor fürchtete sich auch Michael. Sein Telefon sei abgehört worden, sagt er. Misstrauen und Angst wuchsen. Also ließ er von einem Tag auf den anderen sein altes Leben zurück.

Doch das Gefühl von Sicherheit hat er auch in Nairobi nicht gefunden. "Ich fühle mich wie ein Huhn mit einer Schlinge um den Hals, die an einem Baum festgemacht ist. Addis Abeba ist der Baum. Ich bin zwar weit weg und die Leine ist lang, aber ich hänge noch immer am Baum." Er lebt zurückgezogen, trifft kaum Menschen, erst recht keine Äthiopier anderer Bevölkerungsgruppen. Das Trauma des Krieges lässt ihn nicht los, weil er jeden Tag als Journalist darüber liest und berichtet. Er ist überzeugt, dass der lange Arm der äthiopischen Sicherheitskräfte bis nach Nairobi reicht. Es gebe Spione, sagt er. Die Ernennung im Frühjahr des neuen äthiopischen Botschafters in Kenia – ein hochrangiger General im Tigray-Konflikt – habe diese Angst nur verstärkt.

Michael berichtet von einem Vorfall, von dem auch viele andere Tigray erzählen: Im November vergangenen Jahres wurde in Nairobi ein bekannter Geschäftsmann entführt, ein Tigray. Handyvideos zeigen, wie Männer Samson Teklemichael aus dessen dunkellilafarbigen Bentley zerren, in ein anderes Auto verfrachten und davon fahren.

"Wir wissen nicht, wo er ist, wir wissen nicht, ob er lebt, wir wissen gar nichts", sagt Milen Halefom, die Ehefrau des Entführten. Der Schlüssel des Bentley, aus dem ihr Mann gezerrt wurde, liegt vor ihr auf dem Tisch. Für die 40-Jährige und ihren Mann ist Kenia seit mehr als 15 Jahren Heimat, sie exportieren Kochgas nach Äthiopien. Mit dem Konflikt in Tigray hätten die beiden nichts zu tun, sagt sie. "Mein Mann ist kein Politiker, kein Krimineller." Ob die äthiopische Regierung hinter der Entführung stecken könnte? Dazu könne sie nichts sagen, sie habe keine Beweise. Aber sie sei überzeugt, dass die kenianische Polizei involviert ist. "Und die schulden uns Antworten. Seit einem Jahr." Die Polizei hat auf mehrere Anfragen von ZEIT ONLINE zu dem Fall nicht reagiert.

Stichhaltige Hinweise darauf, dass äthiopische Sicherheitskräfte in Nairobi agieren, sind schwer zu finden. Aber Bedenken um die Sicherheit von Tigray in Kenia bestehen, wie William Davison, ein Analyst beim Thinktank International Crisis Group, sagt. In der Vergangenheit gab es bereits besorgniserregende Vorfälle. Victor Nyamori von Amnesty International berichtet von zwei Äthiopiern, die 2014 von der kenianischen Polizei in Nairobi entführt und den äthiopischen Behörden übergeben wurden. Bei einer Beratungsstelle von Amnesty haben sich demnach viele Geflüchtete darunter Äthiopier, mit Sorgen um ihre Sicherheit gemeldet. Die Fälle werden Nyamori zufolge einzeln untersucht, doch Näheres kann er nicht sagen. Samson Teklemichael ist noch immer verschwunden, und die Ängste der Tigray in Kenia wachsen.

Unweit der schicken Stadtvilla von Milen liegt an einer belebten Straßenecke die Äthiopisch-Orthodoxe Tewahedo-Kirche. Sonntagmorgens ertönen mehrere Stunden lang die Stimmen von Priestern, die rhythmische Gebete auf Altäthiopisch in ein Mikrofon sprechen. Hier trifft sich die äthiopische Gemeinde Nairobis zum Gottesdienst. Doch nicht allen Äthiopiern bietet dieses Gotteshaus einen friedlichen Rückzugsort. "Die Politik ist bereits in die Kirche eingedrungen", sagt ein hochrangiges Mitglied der Kirche, das seinen Namen nicht nennen möchte. Der Mann ist selbst Tigray. Zwar wird er nicht direkt angegriffen, wie er sagt, dagegen schütze ihn seine hohe Position. Die Priester würden der Gemeinde Inhalte predigen, die ihnen von der äthiopischen Botschaft vorgegeben würden. "Tigray kommen inzwischen gar nicht mehr".

An die Zukunft zu denken, ist ein Luxus

Tsegay und Tomas, zwei Freunde in ihren Dreißigern, beide Tigray, sind vor rund einem Jahr von Addis Abeba nach Nairobi geflohen. Auch sie möchten nicht, dass ihre richtigen Namen veröffentlicht werden. Tsegay gehe zwar in die Kirche zum Beten, aber nur nachts, "wenn dort kein Mensch ist". Tomas betet wenn überhaupt zu Hause. Die beiden leben mit einer weiteren Person in einer kleinen Wohnung: zwei Zimmer, jedes kaum größer als eine Abstellkammer. Küche und Bad sind außerhalb der Wohnung auf dem Gang. Die Matratze von Tsegay lehnt tagsüber an der Wand, um Platz zu schaffen, darüber hängt die Flagge von Tigray: rot mit gelbem Dreieck und Stern. Es brennt äthiopischer Weihrauch.

Die Wohnung ist Welten entfernt von der Mittelschicht-Idylle, die die beiden in Addis Abeba zurückgelassen haben – Job, Auto, Wohnung, Freunde, Spaß. Ihr Leben in Nairobi hat sich auf das Mindeste reduziert: in Sicherheit bleiben. Auch sie sind schockiert über die Entführung des Geschäftsmannes Samson Teklemichael. "Unsere Regierung versucht, uns zu eliminieren, auch hier", sagt Tomas. In ihrem neuen Leben ist der Fokus auf eins gerichtet: "Im Moment denke ich daran, wie ich überleben kann." Damit meint Tomas auch das finanzielle Überleben, denn Nairobi ist teuer und die beiden haben keine Arbeit.

An die Zukunft zu denken ist ein Luxus, den sie sich kaum leisten können. Der Krieg habe ihm vor allem eines gelehrt, sagt Tsegay: "Das Leben ist nicht, wie du es erwartet hast. Es kann sich innerhalb einer Sekunde ändern." Immer mal wieder kommen flüchtige Zukunftsgedanken auf, über ein Leben in Kenia, oder doch als Kämpfer im Krieg. Die Männer träumen von einem unabhängigen Tigray.

Im Hier und Jetzt gönnt sich Tsegay nur einen Luxus: "Ich liebe Injera. Ich kann mich davon nicht fernhalten", sagt er. Er kauft das äthiopische Fladenbrot in einem Restaurant. Es ist nicht nur der Geschmack, den Tsegay liebt. Das Brot erinnert ihn an Zuhause. "In unserer Kultur isst man Injera nicht allein." Man trifft sich um eine große runde Platte, isst gemeinsam, teilt, redet – Injera bringt Menschen zusammen. Wann Tsegay das nächste Mal mit seiner Familie in Addis Abeba oder Tigray Injera essen wird, weiß er nicht.

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